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Rede des Bürgermeisters zum Gedenken an die Reichspogromnacht

09.11.2020

Die Rede im Wortlaut:

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

es ist wieder der 9. November – wir erinnern wieder an die Reichspogromnacht 1938 – wieder erinnern wir an das unsägliche Leid, was von diesem Tag an über die jüdische Bevölkerung Deutschlands hereinbrach. Wir wissen, dass auch in Lampertheim dieser Hass vorhanden war und diese Grausamkeiten stattfanden. In diesem Jahr stehen wir nicht an der Stelle, an der die Synagoge einst stand. Dieses Jahr müssen wir Corona weichen. Doch weichen wir nicht ab von der Erinnerung an diesen Tag.

Auch in Lampertheim sind Menschen aus ihren Wohnungen geholt, geschlagen, deportiert, wie Vieh verfrachtet und in Konzentrationslagern getötet worden. Nur wenige haben überlebt.

In Lampertheim erinnern wir an diese Menschen, indem wir Stolpersteine in unseren Weg legen, um auch unter der Zeit die Erinnerung wach zu halten.

Ist dieses Erinnern eine stereotype Handlung, die wir vornehmen, weil es so ist? „Das haben wir schon immer so getan?“ Oder ist mehr daran, an unserem Erinnern? Was wollen wir mit unserem Erinnern erreichen? Wen wollen wir mit unserem Erinnern erreichen? Ich frage mich deshalb:

Warum ist uns das so wichtig? Worin liegt die besondere Bedeutung für uns?
  
Erinnerung, Erinnerungskultur: Der Begriff sei „synonym mit dem Konzept der Geschichtskultur gebraucht, aber er hebt stärker als dieses auf das Moment des funktionalen Gebrauchs der Vergangenheit für gegenwärtige Zwecke, für die Formierung einer historisch begründeten Identität ab.“

Soll heißen: Wir wissen was damals passierte und weil wir das Wissen, soll es uns heute und in der Zukunft nicht wieder passieren.

Wir stellen fest, dass das nationalsozialistische Unrechtsregime Unheil über die europäischen Juden, die in den Krieg verwickelten Nachbarstaaten in Europa, aber auch in Afrika, aber auch über das eigene Volk gebracht hat. Millionen Menschen haben ihr Leben verloren, ihre Heimat verloren, Hab und Gut verloren – letztendlich alles verloren – manchmal auch den Willen zum Leben. Wir kennen dieses Leid „nur“ aus Erzählungen unserer Großeltern, Urgroßeltern und weiterer Zeitzeugen, die wir zum Beispiel in der Schule kennenlernten. Eindrückliche Bilddokumente sehen wir in der Schule, gelegentlich in Kirchen, musealen Einrichtungen, manchmal im Fernsehen. Ich frage mich deshalb:

Was lernen wir heute daraus? Wie wirken diese Menschen, diese Bilder, diese Erkenntnisse auf uns?

Ich habe gelesen, dass im Rahmen eines Gutachtens zur Weiterentwicklung der Erinnerungskultur, das die nordrhein-westfälische Landesregierung 2008 in Auftrag gab, Harald Welzer vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen die Wirksamkeit der Erinnerungs- und Gedenkkultur von Holocaust-Gedenkstätten untersuchte. Welzer konstatiert zwar die verbreitete, in empirischen Untersuchungen festgestellte Bereitschaft Jugendlicher, sich mit den Themen der NS-Zeit auseinanderzusetzen, sieht es aber aus sozialpsychologischer Sicht als kontraproduktiv an, die „Vermittlung historischen Wissens mit einer moralischen Gebrauchsanweisung zu versehen“. Er wendet sich gegen das ebenfalls kontraproduktive „Pathos erinnerungskultureller Redeformeln“: Wenn sie wirksam werden soll, müsse die Erinnerungskultur „nicht mehr das monumentalisierte Grauen der Vernichtungslager ins Zentrum stellen, sondern das unspektakulärere, alltäglichere Bild einer Gesellschaft, die zunehmend verbrecherisch wird“. Als Lösung schlägt er vor, Gegenwartsbezüge zu thematisieren und in „bürgerlichen Lernorten neuen Typs“ Handlungsspielräume aufzuzeigen, es solle eher der „soziale Alltag der Ausgrenzungsgesellschaft“ als das „Grauen der Vernichtung“ dargestellt werden.

In ähnlicher Richtung wie Welzer äußerte auch Gerhard Schröder im Jahre 1999 seine Skepsis. Er trat für eine Gedenkstätte ein, in der die Auseinandersetzung mit der Geschichte stattfindet: „sichtbares Zeichen für das Nichtvergessen und Gelegenheit oder auch Anregung zu intensiver Auseinandersetzung. […] Ich möchte nicht, dass da Schulklassen hingeschleppt werden, weil es sich so gehört. Vielmehr solle man hingehen, weil man das Bedürfnis hat, sich zu erinnern und auseinanderzusetzen.“

Dem möchte ich mich gerne anschließen. Wir brauchen Symbole und Plätze, die Verkörpern an was wir uns erinnern wollen. Sie sollten sich aber den Bedürfnissen der Menschen anpassen. Unser Erinnern sollte deshalb nicht nur die Vergangenheit aufleben lassen, sondern den Bogen zum hier und jetzt schlagen und uns bewusst machen, wo wir heute stehen.

Seitdem ich an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang sprechen darf, versuche ich das umzusetzen.
Werten wir die Medien seit unserem letzten Treffen aus. Täglich werden Berichte darüber geliefert, dass wir uns mehr und mehr dem Rechtsextremismus oder Nationalsozialismus nähern. Organisierte und nicht organisierte Gruppen, im Bund, im Land, die durch rechtsextreme Entwicklungen auffallen. Deren Vertreter oder Mandatsträger, die ausgeschlossen werden oder sich selbst von den einstigen Freunden abwenden, weil sie erkennen, dass Grenzen überschritten werden.

Der Bezug zu heute stellt sich zum Beispiel in statistischen Zahlen dar: Ich berichtete bereits im letzten Jahr darüber, dass in 2018 die antisemitischen Straftaten gegenüber 2017 schon zugenommen hatten. Wir erinnern uns in 2019 an ein besonderes Verbrechen, nämlich den Versuch in die Synagoge von Halle einzudringen, um darin ein Massaker zu verüben. Für 2019 stellten Verfassungsschutz und Polizei eine erneute Erhöhung der Fallzahlen gegenüber 2018 um 13% fest. Damit haben antisemitische Straftaten die Grenze von 2.000 Straftaten überschritten (2.038).

Da stellt sich die Frage: Haben wir aus unserer Geschichte gelernt? Behält Brecht Recht: der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch? Ich frage mich deshalb:

Was müssen wir dafür tun, damit das Erinnern für heutige Zwecke dient?

Miteinander sprechen, vortragen, lehren, lernen, es leben, mit eindrücklichen Veranstaltungen wie dieser daran erinnern, in unseren Alltag platzieren. Jeder von uns soll Multiplikator dieser Botschaft sein: Nie wieder Krieg, nie wieder Nationalsozialismus, nie wieder menschenverachtende Politik, nie wieder…

Ich weiß: das ist manchmal nicht einfach, gelegentlich auch mit Unannehmlichkeiten verbunden, aber verlangt momentan nur Courage.

Ich komme am Ende noch einmal auf den Ausgang meines Vortrages zurück, der die Erinnerung, das Erinnern auf den funktionalen Gebrauch der Vergangenheit für gegenwärtige Zwecke festlegt.

Wir sollen uns erinnern und wir wollen uns erinnern. Ich wünsche mir, dass dieses Erinnern dazu führt, dass sich viele Menschen damit auseinandersetzen, wo wir heute stehen. Wie wir uns gegenüber den Nachbarn, den sozial Schwachen, den Flüchtlingen in unserem Land, den Andersgläubigen, den anders Aussehenden gegenüber verhalten. Auch: Wie egoistisch sich einige in einer Pandemie der Gesellschaft gegenüber verhalten. Das Grauen von damals soll nicht verdrängt werden. Es soll dazu dienen, die heutigen Herausforderungen zu meistern – gut zu meistern.

Ich möchte mit einem Zitat von Helmut Kohl schließen:
„Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“

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